migrantenstadl presents: sprachhilfe für türkische gastarbeiter*innen, 1970

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Wenn Sprache unser gegenwärtiges Bewusstsein prägt, können wir von Schriftsprache sogar sagen, dass sie unser kollektives Bewusstsein festschreibt. So sind historische Schriftstücke immer Zeugnisse eines bestimmten Zeitgeists, seiner Begriffe und Ideologien. Während heute darüber diskutiert wird, ob der Begriff „Rasse“ aus dem deutschen Grundgesetz gestrichen wird, im Sinne einer Überwindung rassistischer Vorstellungen, lehrt uns der Blick in historische Schriftstücke wie das Geschichtsbuch von 1970, die Sexualaufklärungsbroschüre von 1956 oder eben das Grundgesetz von 2020 einiges über unsere Begriffe damals wie heute. Und was sagt uns ein Blick in die von Langenscheidt herausgegebene Sprachhilfe zur Verständigung zwischen türkischen und deutschen Mitarbeitern in deutschen Betrieben, die Faruk Önder 1970 von einer Baufirma in München ausgehändigt bekam?

Hierzu ein paar Schlaglichter: Wenn Silvia Federici sagt, dass der Kapitalismus immer erst einen bestimmten Arbeiter*innentypus schaffen muss, um dann eine bestimmte Form der Arbeitsorganisation hervorzubringen[1] – welcher Arbeiter*innentypus wird hier erzeugt? Zunächst sollten wir vielleicht über den Begriff der Sprachhilfe stolpern. Wem oder was wird eigentlich geholfen? Ist hier nur eine Hilfe für Immigrant*innen, sich sprachlich zurechtzufinden, gemeint? Oder hilft die Sprache gleichsam den Typus Gastarbeiter*in zu schaffen? Haben wir es hier mit einem Vokabular für das Proletariat „an sich“ zu tun?  

Wird die Ausbeutung der Arbeiter*innen naturalisiert, wenn in den vorgeschlagenen Floskeln Demut gegenüber der*dem Vorgesetzten, vorwiegend körperliche Arbeit sowie Überstunden und Arbeit an Feiertagen im Fokus liegen? Wie vermischen sich hier Rassifizierung und Klassismus? Es scheint offenkundig, dass wir es mit der basalsten Ebene von Klassismus zu tun haben – sozusagen mit der „ursprünglichen Akkumulation“ (Marx/Federici) des deutschen Wohlstands in Nachkriegszeiten: Was hier geschaffen wird ist die*der türkische Gastarbeiter*in gegenüber der*dem deutschen Vorgesetzten. (Wahlweise bewegen sich Biodeutsche noch als Vorarbeiter*innen im Bereich der Arbeiter*innenaristokratie – aber mit Ankunft neuer Rekrut*innen für das Proletariat, ist jedenfalls Aufstieg möglich.) Die Parameter der Klassengesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland verschieben sich. Und was bleibt? Ein rassifizierter Arbeiter*innentypus, der sich stets am Abgrund seiner Existenzgrundlage befindet, im doppelten Sinne: Denn Bestand in der bürgerlichen deutschen Gesellschaft hat nur wer Arbeit und einen legalen Status in Deutschland hat – untrennbar miteinander verquickt. 

Ich habe eine Arbeitserlaubnis. 
         Ich habe keine Arbeitserlaubnis. 
                   Ich habe eine Aufenthaltserlaubnis. 
                            Ich habe keine Aufenthaltserlaubnis.

Zurück zum historischen Schriftstück: es kann uns viel über den Wandel gesellschaftlicher Normstrukturen erzählen, aber gleichzeitig immer nur so viel, wie wir bereits verstanden haben. So manches müssen wir zwischen und hinter den Zeilen lesen und immer wieder abgleichen, wie Sprache hilft, die Realität zu beschreiben und wie sie verhilft, Realität zu formen. Und welche Leerstelle im Bezug auf unsere Realität hinterlässt Sprache? So ist die titelbegebene „Verständigung zwischen türkischen und deutschen Mitarbeitern“ auf Augenhöhe vielleicht etwas, das jenseits der hierarchisierenden Sprache passiert – da wo Typus und realer Mensch nicht vollends deckungsgleich sind.

Wie kann uns also geholfen werden die Funktions(weise) von Sprache und Schrift zu begreifen? Wahrhaft lehrreich wäre es, wenn solche Schriftstücke auf ihren charakterisierenden, konstruierenden und antizipierenden Charakter untersucht würden und dies kontinuierlich in Editionen festgehalten würde – eine Art fortlaufende Genese-Analyse im Wechselspiel. Her mit der Textkritik zum Bürgerlichen Gesetzbuch! Her mit dem Handbuch zum türkisch-deutschen Wörterbuch! Her mit der historisch-kritischen Ausgabe des deutschen Grundgesetzes!

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[1] Hier sei auf das Interview mit Silvia Federici zu ihrem Buch „Caliban und die Hexe“ verwiesen.

Silvia Federici: Die Frage ist, ob Marx die ursprüngliche Akkumulation für einen Prozess hält, der am Anfang des Kapitalismus auftritt und eine besondere Phase darstellt, oder als einen Prozess, der sich fortsetzt und wiederkehrt. Dazu gibt es viele Positionen. Ich denke, was auch immer Marx gesagt hat, es gibt viele Stellungnahmen in diese oder die andere Richtung, aber meine Position ist, dass die ursprüngliche Akkumulation nicht abgeschlossen ist.


Text: Aylin Kreckel
Auszug aus: Tunay Önder, Imad Mustafa: migrantenstadl, Unrast Verlag, Münster 2016.

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