migrantenstadl presents: aktueller bericht aus der peripherie, teil 929

sonntag morgen, 23. januar 2011, 7:37 Uhr, tram 11 zum hbf, minus 2 grad. es ist noch dunkel hier draußen. nur vom leben ausgemergelte gestalten, denen anzusehen ist, wie sehr sie leiden. wer ist jetzt schon unterwegs? 

Foto: Imad Mustafa

die abgehängten, die armen schlucker, die versager*innen und arbeiter*innen, denen das leben nichts anderes als maloche beschert hat. ausländer*innen. wirklich aus-länder*innen, aus der gesellschaft draußen gehaltene, zum dienste an der gesellschaft verdammte, deren leben sich um den verkauf von backwaren, kaffee, tickets und der abfertigung von gepäck dreht.

ein paar kirchgängerinnen sind auch dabei, eritreische frauen in ihren weißen gewändern. auch aus-länderinnen. wer geht sonst noch ernsthaft in die kirche heute? es ist alles ein trauriger, betrüblicher anblick. ihre körper von der jahrzehntelangen arbeit geschröpft, anfällig, hart geworden, so als würden sie von innen heraus austrocknen. schlimm sind auch die gespräche manchmal. von der arbeit abgestumpfte gehirne produzieren wortsalven die von rohheit durchtränkt sind. 

wann lernt die mittelschicht, dass es so nicht weitergeht, der große verrat, den sie in erster linie an sich selbst, aber auch an den anderen übt, muss aufhören. mittlere angestellte, die sich für die herren dieser welt halten, in ihren phantasmagorien wichtige entscheidungen treffen, aber im einzelnen unbedeutende staubkörner sind. die decision-maker und protagonist*innen in den bürotürmen, werbeagenturen, redaktionsbüros, lehrer*innenzimmern, kanzleien dünken sich auf der anderen seite, nicht dazugehörig zum proletariat, da sie ja entscheidungen treffen, sekretär*innen haben, die das leben der anderen beeinflussen und beschädigen. ist ihnen denn nicht klar, dass sie auch nur geknechtete sind, unfreie, mehrwert produzierende individuen, die den profit für diejenigen erwirtschaften, denen das alles gehört?! sie wollen dazugehören, zu denen da oben, deshalb denken sie, sie seien bereits ein teil davon. selbstbetrug. doch sie werden niemals ein teil davon sein. genauso wenig wie die ausgemergelten gestalten am frühen sonntag. einsicht darin bedeutet nicht weniger als den beginn der revolution hier und anderswo. einsicht in die verlogenheit dieser haltung, der hybris, der sich die mittelschicht schuldig macht. einsicht darin, dass der konsumismus, dem sie fröhnt, den sie den subalternen vorlebt, und dem diese sich entgegensehnen, nichts anderes ist, als lug und betrug, weil er begehrlichkeiten und träume in ihnen weckt, die sie unbefriedigt zurücklassen, sie frustriert, kompensiert durch schlechtes und vieles essen, das ihnen vorgaukelt, teil der konsumgesellschaft zu sein, die oben geblieben ist, gewinner*innen zu sein. sie sind unfähig aufzuhören, weil es gleichermaßen das letzte und das erste ist, das sie tun können, essen, um den schein von teilhabe an der gesellschaft zu wahren, die sie doch nicht haben will, aber auf leben und tod benötigt, und essen, da es doch das einzige ist, das sie mit ihren schmalen einkommenalmosen tun können und sie weiter ihre existenz fristen lässt.


Text: Imad Mustafa
Auszug aus: Tunay Önder, Imad Mustafa: migrantenstadl, Unrast Verlag, Münster 2016.

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