Deutschland wird Entwicklungsland


Seit 2005 hat sich die Zahl der Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, fast halbiert. Sollen wir wieder zum Kleiderbügel greifen?

Papaya

Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen, keine Kolumne mehr über Schwangerschaftsabbrüche zu schreiben wegen der entsetzten Reaktionen beim letzten Mal. Doch wegen der entsetzten Reaktionen ist es anscheinend notwendig.

Unter den Mails, die mich als Mörderin und Serienmörderin beschimpften, verirrte sich auch die einer Freundin, die mich warnte: »Schreib so was nicht, sonst fragen sich die Leute, warum eine so intelligente Frau wie du nicht besser verhüten konnte.« GENAU DESHALB HABE ICH DAS JA GESCHRIEBEN! Ungewollt schwanger zu werden hat nichts damit zu tun, zu blöd zum Verhüten zu sein. Trotzdem ist das das Erste, was sich Menschen selbst vorwerfen. Weil wir nicht darüber reden. Deshalb können wir auch nicht darüber reden, wie eine gute Abtreibung aussehen kann. Oder schlicht, welche Ärzt*innen gut sind.

Vor ein paar Tagen durfte ich bei einer Podiumsdiskussion neben Kristina Hänel sitzen, die im letzten Jahr nicht nur für mich zur Heldin geworden ist, und wünschte mir so sehr, noch einmal schwanger zu sein, um einen Abbruch bei ihr machen zu können. NATÜRLICH NICHT, aber doch, dass ich einen meiner Abbrüche bei ihr gemacht hätte. DENN SIE REDET MIT IHREN PATIENT*INNEN.

Das haben meine Ärzt*innen nie getan. Und sie haben mich auch nie darüber informiert, welche unterschiedlichen Methoden es gibt – im Gegensatz zu Kristina Hänel, weshalb sie nach §219a – Werbung für Schwangerschaftsabbruch – angeklagt und unfassbarerweise verurteilt wurde. Darauf gingen viele von uns auf die Straße oder zumindest auf den Datenhighway, dass die Regierung versprach, sich das noch einmal zu überlegen mit dem §219a. Doch wie das so ist mit Regierungsversprechen …

Auf dem Podium sagte ich: »Wenn das so weitergeht, hat sich das sowieso bald erübrigt, da immer weniger Ärzt*innen Abtreibungen anbieten, weil die im Medizinstudium schlicht nicht unterrichtet werden. Deshalb organisieren Medical Students for Choice selbst Workshops, um Abtreibungen zu lernen – an Papayas! Das ist das Nächste zu einer Gebärmutter, das sie haben. Und wenn sie die Instrumente zu weit einführen, kommen die hinten wieder raus, wie bei einer Gebärmutter.« Eine Medizinstudentin meldete sich und sagte: »Wir hätten auch gerne solche Papayaworkshops.«

Ist es so weit gekommen, dass wir schon glücklich sind, wenn sich junge Menschen mit Früchten selbst beibringen Abbrüche vorzunehmen? Offensichtlich ja. Deshalb ist das Symbol der bundesweiten Aktion #wegmit219a der Kleiderbügel, an dem meine Urgroßmutter noch gestorben ist. Damals gab es nämlich nicht weniger Abtreibungen, sondern nur mehr Tote.

Am 26.01. ist es soweit! Seid dabei! Nicht dass wir irgendwann nach Irland fahren müssen, wenn wir eine Abtreibung brauchen.

Mithu M. Sanyal, diese Kolumne erschien am 14.01.2019 auf taz.de


Gespräch von Lennart Lofink mit Medizinstudierenden in sozialer Verantwortung

Lennart Lofink: Liebe Hannah, lieber Justus, Mithu Sanyal beschreibt in ihrer Kolumne unter anderem die prekären Verhältnisse innerhalb des Medizinstudiums, wenn es um das Thema Schwangerschaftsabbrüche geht. Habt ihr auch schon mal an einer Papaya einen Eingriff simuliert? 

Hannah Rosa Hambruch und Justus Schikora: Leider werden an den Bochumer Universitätskliniken keine Abtreibungen durchgeführt, da die beiden gynäkologischen Abteilungen in kirchlich getragenen Häusern des Uniklinikums untergebracht sind. Zwar lernen wir als Medizinstudierende in der Vorlesung theoretisch die Verfahren kennen, dies ist jedoch alles andere als umfangreich oder praxisbezogen. Das Konzept, die Vakuumaspiration, also eine invasive und mechanische Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs, mit Hilfe einer Papaya zu üben, wird in Deutschland nur in Berlin von Medizinstudierenden für Medizinstudierende als zusätzlicher Workshop angeboten. Insgesamt empfinden wir den Umfang des Lehrplans als nicht ausreichend und das möchten wir gerne ändern, indem wir eine ergänzende Veranstaltung zum Thema Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Deshalb hat unsere Studigruppe, die SozMed Ruhr, zusammen mit pro familia Bochum und einer Gynäkologin gerade einen Papaya-Workshop erarbeitet, sodass wir bald zum ersten Mal in Bochum die Möglichkeit haben werden, Schwangerschaftsabbrüche an Papayas zu üben. Außerdem möchten wir Medizinstudierende und alle anderen Interessierten weitergehend über die rechtlichen, medizinischen und psychosozialen Aspekte im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen informieren. 

Lennart Lofink: Ihr seid Mitglieder der Gruppe »Medizinstudierende in sozialer Verantwortung Bochum«. Worum geht es da? 

Hannah Rosa Hambruch und Justus Schikora: Wir sind eine Gruppe von Menschen, die sich kritisch mit medizinpolitischen Themen auseinandersetzt und sich regelmäßig trifft, um zu diskutieren und verschiedene Veranstaltungen und Aktionen zu planen. Die Themen, mit denen wir uns vor allem beschäftigen, sind unter anderem: Ethik in Medizin und Forschung, Frieden und Abrüstung – gerade durch die Entstehung aus der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War), Umweltschutz und Klimawandel, Gesundheitspolitik sowie Geschlechtervielfalt und Gleichberechtigung. Bei unserer neuen Veranstaltung zum Thema Schwangerschaftsabbruch möchten wir unsere Kommiliton*innen ergänzend zum Medizinstudium informieren und für dieses Thema sensibilisieren. Dabei ist uns vor allem auch die interdisziplinäre Sicht wichtig, die nicht nur die medizinischen Methoden, sondern auch die psychosozialen Konflikte und die Rechtslage beleuchtet.
Bei einer bereits erfolgreichen Veranstaltung über das Krankenhaussystem und dessen fortschreitende Ökonomisierung in Deutschland, war es uns wichtig, einerseits auf die Ursachen aufmerksam zu machen, aber andereseits mit den eingeladenen Expert*innen auch mögliche Zukunftskonzepte zu diskutieren, gerade weil dieses Thema einen so starken Einfluss auf alle Beteiligten, also Patient*innen, Pflegende und Ärzt*innen hat.

Lennart Lofink: Bei eurer letzten Veranstaltung am 27. Mai 2019 waren prominente Gäste geladen. Darunter die ehemalige Gesundheitsministerin und SPD-Politikerin Birgit Fischer. Welches Feedback bekommt ihr von Seiten der Politik? 

Hannah Rosa Hambruch und Justus Schikora: Uns hat es sehr gefreut, dass Frau Fischer bei der Diskussion dabei war und unserer Einladung gefolgt ist. Nach der Filmvorführung diskutierten wir mit ihr über das deutsche Gesundheitssystem, dessen Probleme und mögliche Alternativen. Es war eine sehr interessante und gute Diskussion zusammen mit drei weiteren Experten und dem Publikum, und Frau Fischer hat uns ein sehr positives Feedback gegeben. Ihrer Meinung nach, ist auch unser Engagement Teil der Lösung der Probleme, nämlich, das angehende Ärzt*innen sich einsetzen und Diskurse anregen. 

Lennart Lofink: Seid ihr mit anderen Gruppen vernetzt?

Hannah Rosa Hambruch und Justus Schikora: Die Medical Students of Choice in Berlin haben in Deutschland erstmals den Papaya-Workshop für Medizinstudierende angeboten, was uns dazu inspiriert hat, dies auch in Bochum zu tun. Bei der Organisation und Ausarbeitung haben sie uns auch mit ihren Materialien unterstützt. Ansonsten sind wir auch mit anderen IPPNW-Studigruppen vernetzt und werden auch dieses Jahr wieder zum jährlichen Studitreffen der IPPNW in Düsseldorf fahren. Außerdem haben wir Kontakt zu den Kritischen Medizinstudierenden (KritMeds) an anderen Universitäten.

Lennart Lofink: Welche Rückmeldung bekommt ihr von euren Kommiliton*innen und euren Professor*innen?

Hannah Rosa Hambruch und Justus Schikora: Bei unseren bisherigen Veranstaltungen war die Resonanz sehr positiv, für einige war es der erste Kontakt mit solchen Themen, andere haben sich gefreut, einen Raum zur Diskussion geboten bekommen zu haben. Insgesamt gab es viel Interesse in der Studierendenschaft und Rückhalt von der Fachschaft. Von einigen Professoren gab es positive Rückmeldung und sogar Unterstützung, während unsere bisherigen Kontakte mit dem Studiendekanat nicht ganz so reibungslos verlaufen sind. Für unsere ersten Veranstaltungen Vulva 3.0 – eine Dokumentation zu den weiblichen äußeren Geschlechtsorganen und Trends der Intimchirurgie – und die Filmvorführung mit Diskussion zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens hat sich das Studiendekanat Anfang des Jahres geweigert, uns Räume an unserer Fakultät zur Verfügung zu stellen, obwohl beide Veranstaltungen von Professoren der jeweiligen Fachrichtungen Anatomie und Gesundheitsökonomie unterstützt wurden.

Lennart Lofink: Seit März 2019 gibt es eine Veränderung des Paragraphen 219a. Was ist neu? 

Hannah Rosa Hambruch und Justus Schikora: Die Ergänzung in Paragraph 219a erlaubt es Ärzt*innen und Krankenhäusern, darauf hinzuweisen (z.B. auf ihren Websites), dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Informationen rund um den Schwangerschaftsabbruch, wie zum Beispiel welche Methoden sie selbst anwenden, dürfen sie allerdings nicht veröffentlichen. Solche Informationen müssen dann in entsprechenden Beratungsstellen eingeholt werden. Somit bleibt eine umfassende Aufklärung weiterhin strafbar und ungewollt Schwangeren wird der Zugang zu medizinischen Informationen erheblich erschwert. Das ist vor allem deswegen nicht hinnehmbar, weil sogenannte Lebensschützer*innen uneingeschränkt ihre aggressiven und verzerrten Inhalte ins Netz stellen können. Diese Situation verschlimmert die akute Notlage der betroffenen Frauen und müsste unbedingt verhindert werden.
Wenn dann aber trotz der Ergänzung des § 219a in Berlin wieder zwei Ärztinnen angeklagt werden, weil sie auf ihrer Website darüber informieren, dass sie einen medikamentösen Abbruch durchführen, dann kann unsere Forderung weiterhin nur die Abschaffung dieses Paragraphen sein!

Lennart Lofink: Vielen Dank für eure Antworten und eure Zeit.


                                                                                                                                    Juli 2019

 


Aus WORD. – Magazin für Literatur, Kunst und Gesellschaft
#2 – This is a woman’s world, Juli 2019
Herausgeber: Lennart Lofink
www.word-magazin.de

Wir danken dem WORD Magazin sowie der taz für die freundliche Erlaubnis der Zweitveröffentlichung.